La roue =
c'est tout

La roue = c'est tout
Sammlungspräsentation

ab 8. Februar 2023

 

Laut Tinguely «leben wir in einer Räderzivilisation». So sind das Verhältnis von Mensch und Maschine und die daraus resultierenden Abhängigkeiten, die Tinguely lustvoll dekonstruierte, auch heute noch prägend für unser Leben. Die neue Sammlungspräsentation lädt ein, das filigran-poetische Frühwerk, die explosiven Aktionen und Kollaborationen der 1960er Jahre und die musikalischen, monumentalen und düsteren Spätwerke in einem abwechslungsreichen Parcours zu entdecken, der viele Möglichkeiten zum Mitmachen bietet.

Erstmals seit der Gründung des Museums 1996 wird die ständig wachsende Werksammlung des Künstlers wieder in der grossen Halle des Hauses ausgestellt. Ergänzt durch einige Leihgaben wichtiger Schlüsselwerke eröffnet sich damit ein umfassender Überblick über Tinguelys Schaffen. Seine Aussage «La roue = c’est tout» dient dabei als roter Faden: Das Motiv des Rads zieht sich nicht nur durch alle Schaffensphasen des Künstlers, es steht auch für Tinguelys Überzeugung, der andauernde Wandel der Zeit müsse in der Kunst Ausdruck finden.

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Jean Tinguely, Méta-Matic No. 6, 1959

Nach Tinguelys Tätigkeit als Schaufensterdekorateur in Basel, die an seine Ausbildung in der Kunstgewerbeschule anschloss, wagte er 1952 den Schritt, der für seine Karriere entscheidend sein sollte: Sein Umzug nach Paris führte zu neuen Inspirationsquellen und wichtigen Kontakten in der Kunstszene. Gleich im ersten Raum der Sammlungspräsentation kommen Tinguelys Erfindungsreichtum und Innovativität zur Geltung. Er ist den frühen kinetischen Drahtskulpturen und Reliefs der 1950er Jahre gewidmet, mit denen Tinguely seinen Ruf als Pionier der kinetischen Kunst begründete. Der Durchbruch gelang ihm 1959 mit der Erfindung der Méta-Matic-Zeichenmaschinen. Durch die Miteinbeziehung des Publikums hinterfragte er nicht nur den etablierten Begriff von Kunstwerk und Künstler:in, sondern auch festgefahrene Strukturen des kapitalistischen Kunstmarkts.

La roue «le début de tout»  - la mobilité totale, la folie, la vitesse, la quantité industrielle 

Jean Tinguely, 1966

Rundgang durch die Sammlungspräsentation mit Direktor und Kurator Roland Wetzel und der wissenschaftlichen Assistentin Tabea Panizzi.

Jean Tinguely, Hannibal II, 1967

Jean Tinguely, Hannibal II, 1967

1960 schloss sich Tinguely mit weiteren Künstler:innen zu den Nouveaux Réalistes zusammen. Sie setzten sich zum Ziel, die Kluft zwischen Kunst und Leben zu überwinden. Parallel dazu begann Tinguely mit der Herstellung seiner Werke aus Schrott und Alltagsmaterialien. In der Sammlungspräsentation werden diese der darauffolgenden Serie von schwarzen Skulpturen gegenübergestellt, welche ab der Mitte der 1960er Jahre entstanden. Durch die schwarze Bemalung treten die einzelnen Bestandteile der Skulpturen stärker in den Hintergrund zu Gunsten der unterschiedlichen – mal eleganten und leichten, mal schweren und martialischen – Bewegungsabläufen, die seinen Maschinen eingeschrieben sind.

Aufbau von HON im Moderna Museet, Stockholm, 1966, Foto: Hans Hammarskiöld © Hans Hammarskiöld Heritage

Aufbau von HON im Moderna Museet, Stockholm, 1966, Foto: Hans Hammarskiöld © Hans Hammarskiöld Heritage

Ein Schwerpunkt der Sammlungspräsentation liegt auf Tinguelys Aktionen und Happenings sowie den Gemeinschaftsprojekten, die er zusammen mit befreundeten Künstler:innen plante und realisierte. Diese führten ihn aus seinem Atelier heraus – von Paris über London nach New York und in die Wüste Nevadas, von Stockholm über Mailand und Milly-la-Forêt bis hin zurück nach Basel. Planungsskizzen, Fotografien und Filmaufnahmen sowie erhalten gebliebene Fragmente veranschaulichen, wie facettenreich und innovativ Tinguelys Schaffen war. Seine Aktionen und Projekte amüsierten und provozierten zugleich – und sprengten damals alle Konventionen der Kunstgeschichte.

Als besonderes Highlight wird nach mehr als zwanzig Jahren erstmals wieder ein wichtiges Hauptwerk der 1960er Jahre präsentiert: L’Éloge de la Folie steht stellvertretend für die zahlreichen Kollaborationen, an denen Tinguely beteiligt war. Ähnlich einem überdimensionierten Schattenspiel wird das flache schwarze Räderwerk mit einer Grösse von 5 x 7.5 Metern von hinten beleuchtet und ist damit ein echter Blickfang. Ursprünglich fungierte die Arbeit als Teil eines Bühnenbilds für das gleichnamige Tanzstück, welches 1966 im Pariser Théâtre des Champs-Elysées uraufgeführt wurde. Damals setzte ein Tänzer die Räder der Konstruktion auf einem veloähnlichen Gestell in Bewegung. Heute übernimmt ein Elektromotor diese Aufgabe. Die wechselseitige Abhängigkeit von Mensch und Maschine wird durch eine menschliche Silhouette aber weiterhin auf eindrucksvolle poetische Weise zum Ausdruck gebracht.

Jean Tinguely, Fatamorgana, Méta-Harmonie IV, 1985

Jean Tinguely, Fatamorgana, Méta-Harmonie IV, 1985

Mit der neuen Sammlungspräsentation finden 2023 neben dem begehbaren Werk Grosse-Méta-Maxi-Maxi-Utopia (1987) auch wieder Tinguelys Musikmaschinen wie die Fatamorgana – Méta-Harmonie IV (1985) oder die Méta-Harmonie II (1979) ihren Platz im freien Raum der Halle, die der Architekt Mario Botta ursprünglich eigens für die Grosswerke Tinguelys konzipierte. Hier bewegen sich die Werke in einem zeitlich festgelegten Ablauf, um sie nacheinander in Aktion erleben zu können.

Jean Tinguely, Hippopotamus, 1991

Jean Tinguely, Hippopotamus, 1991

Auf einem neu eingezogenen Zwischengeschoss wird schliesslich Tinguelys Spätwerk der 1980er Jahre in den Blick genommen. Dieses zeichnet sich durch seinen düsteren und oft sakralen Charakter aus, welcher aus Tinguelys Beschäftigung mit den Themen von Vergänglichkeit und Tod resultierte. Diese Aspekte spielten auch in seine Faszination für den Motorsport hinein. Die Perfektion in der Verbindung von Mensch und Maschine, aber auch die latente Gefahr von Unfall, Chaos und Tod zogen Tinguely ein Leben lang in den Bann. Seine zahlreichen Besuche von Formel-1-Rennen dienten auch zur Neubeschaffung von künstlerischem Material. Neben Tierschädeln integrierte Tinguely in seinen späten Maschinen so auch immer wieder Fragmente beschädigter Rennautos.

Eine Erlebnis-Wand beim Eingang des Museums ist der neue Auftakt für Familien und Besuchende mit Kindern im Haus. Über mehrere Sinne bietet sie Anregungen für einen inspirierenden Besuch und gibt Einblick in die Kunstvermittlung des Museums sowie deren aktuelle Angebote.

Um die Kunstwerke der Sammlung eigenständig auf spielerische Art zu erkunden, bietet die Kunstvermittlung zusätzlich zum Museumsbesuch ‘Parcours für Familien‘ an, die zu neuen Entdeckungen einladen und Denkanstösse für Jung und Alt liefern.

Die Ausstellung wird kuratiert von Roland Wetzel, Assistenz: Tabea Panizzi